Dieter Lüttge
DANACH UND DANACH – GEDANKEN ZU EINEM FOTOGRAFISCHEN KONZEPT
Das "Danach" begann mit der Öffnung der deutsch-deutschen Grenze. Was ursprünglich genuin fotografisches
Erkundungsinteresse mit künstlerischem Gestaltungsanspruch zweier auftragsgebundener freier Fotografen aus dem Westen war,
wurde im Verlauf eines kontinuierlich sich entwickelnden und verändernden Arbeitsprozesses zu einem stringenten Konzept
im Sinne einer systematischen Untersuchung.
Der anfängliche Projektgedanke, durch typische und systematische fotografische Aufnahmen zu einem gegenseitigen
Verstehen beizutragen, zeigte seinen Erfolg in einer Folge von Ausstellungen. Beabsichtigt war ein distanzierter, eher sachlicher
Blick und keine psychologische Umdeutung ins Sublime. So entstand unmittelbar nach der Wende und in der Zeit danach
ein umfangreiches Archiv von fotografischen Bildern. Geplant war, durch wiederholtes Aufsuchen der Ausgangsmotive an ihren
Aufnahmeorten zu einer vergleichenden Betrachtung der Veränderungen zu gelangen. Die sich entwickelnde, nach wie vor noch
unabgeschlossene Arbeit, beinhaltet in ihrer Prozeßhaftigkeit eine sowohl formale als auch inhaltilche Offenheit, so daß von
einem »work in progreß« gesprochen werden kann. Daraus ergab sich folgerichtig das strenge Konzept einer fotografischen
Gegenüberstellung – das Danach und Danach – von fotografischen Einzelbildern zu Paaren oder Serien. Versucht wird, die
Fotografien als Bilder wirksam werden zu lassen. Sie sollen nich dem politischen oder jurnalistischen Tagesgeschäft dienen, sie
wollen nicht aktuell reportieren, sondern mit längerem Atem Dokument sein. Sie sind weder Werbebilder für den Aufschwung Ost, noch
pittoreske Fotografien der Morbidität voller Nostalgie.
In der Gegenüberstellung der Fotografien wird eine Brechung erzeugt, die eine ambivalente Vergleichssituation schafft.
So kann durch Leerstellen zwischen den Bildern Nachdenken hervorgerufen werden. Deshalb stehen die Bildpaare bzw. -reihen nicht
unmittelbar zusammen auf einer Seite, sondern sie isnd vielmehr beim Umblättern von der einen Seite auf die andere nachvollziehbar.
Durch die Beziehungen zwischen den Bildern entsteht eine ARt Text für den Betrachter, an den er seine eigenen Interpretationen
knüpfen kann. Die Bilder vertreten keine eindeutigen Postionen, sie stehen vielmehr für das Nicht-Einlösen von Erklärungen, weisen
eine offene Erzählstruktur auf. Die Fotografien können unter verschiedenen Blickrichtungen unterschiedliche Entwicklungen veranschaulichen.
Es ist ihr ästhetischer Anspruch, in dieser besonderen Form zu einer kulturellen Aufarbeitung beizutragen. In dem die Bilder zu Nach-
oder Bedenklichkeit führen, sind sie jedoch weniger beständige als Fragen provozierende Fotografien. zwar befriedigen sie mitunter die
Augenlust, ihre bildbezogene Qualität liegt jedoch eher hinter oder besser zwischen den einzelnen Fotografien.
Offensichtliche bildliche Klarheit entfalten die Fotografien durch die Sichtweise einer vorherrschenden Frontalität, durch strenge
Ausschnitthaftigkeit und – bei aller Brillianz – durch die verhaltene Farbigkeit. Es sind keine topografisch orientierten
Schilderungen. Deshalb wird auch die Untertitelung der Bilder mit Ortsangaben vermieden.
Das Konzept des fotografischen Projekts zielt eher auf stilistische Anonymität, denn auf individuellen Ausdruck. Es ist ein Experiment,
durch Gegenüberstellung der Bilder die unterschiedlichen visuellen Erfahrungen zweier kooperierender Fotografen zu hinterfragen. Der
traditionell ganzheitliche Anspruch des fotografischen Einzelbildes wird zugunsten eines komplexen Realitätsbegriffes aufgelöst. Durch
die Vervielfachung des Zusammenhänge, des Punktuellen und des Ausschnitthaften wird eine andere Interpretation der Bilder möglich. In
gewisser Weise handelt es sich um eine Art wissenschaftlichen Vorgehens. Das Programm des fotografischen Apparats unterstützt diese
Vorgehensweise mit seinem seriellen Aspekt im Sinne eines akkumulierenden Archivierens. Nicht das übliche Suchen nach unwahrscheinlichen
Bildern – die Verklärung – steht im Zentrum des Interesses, sondern das Forschen nach der Stuktur unserer
Wirklichkeitserfassung durch systematische Offenlegung des Arbeitsprogramms. Konzeptuelle Fotografie ist stark von rationalistischem
Registrieren und Sammeln bestimmt, das jedoch ohne subjektive kreativ-künstlerische Grundlagen und Einstellungen kein befreiendes
ästhetisches Programm enthielte.
Fotografiert wurde mit Mittelformatkameras auf professionelles Diapositivmaterial – Klaus Dierßen tat dies im quadratischen und
Ditmar Schädel im rechteckigen Format.
Der Kunstverein Hildesheim gibt dieses Buch heraus, weil er einen Stand der Untersuchung erreicht hat, der es geboten erscheinen läßt,
die Arbeit einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Er möchte die Auseinandersetzung mit dem Problem Kunst und Fotografie
und gezielt die künstlerische Arbeit der beiden Fotografen fördern sowie gleichwohl einen möglichen Beitrag zur Beantwortung der Frage
nach unserer kulturellen Identität leisten. Hier trifft er sich mit den Interessen der weiteren beteiligten Förderer, ohne die das
vorliegende Buch nicht hätte realisiert werden können. Allen Förderern sei an dieser Stelle für ihre entgegenkommende Unterstützung
herzlich gedankt.
Klaus Dierßen
Hildesheim 2021