Klaus Dierßen
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Dieter Lüttge

DANACH UND DANACH – GEDANKEN ZU EINEM FOTOGRAFISCHEN KONZEPT

Das "Danach" begann mit der Öffnung der deutsch-deutschen Grenze. Was ursprünglich genuin fotografisches Erkundungsinteresse mit künstlerischem Gestaltungsanspruch zweier auftragsgebundener ›freier‹ Fotografen aus dem Westen war, wurde im Verlauf eines kontinuierlich sich entwickelnden und verändernden Arbeitsprozesses zu einem stringenten Konzept im Sinne einer systematischen Untersuchung.

Der anfängliche Projektgedanke, durch typische und systematische fotografische Aufnahmen zu einem gegenseitigen Verstehen beizutragen, zeigte seinen Erfolg in einer Folge von Ausstellungen. Beabsichtigt war ein distanzierter, eher sachlicher Blick und keine psychologische Umdeutung ins Sublime. So entstand unmittelbar nach der Wende und ›in der Zeit danach‹ ein umfangreiches Archiv von fotografischen Bildern. Geplant war, durch wiederholtes Aufsuchen der Ausgangsmotive an ihren Aufnahmeorten zu einer vergleichenden Betrachtung der Veränderungen zu gelangen. Die sich entwickelnde, nach wie vor noch unabgeschlossene Arbeit, beinhaltet in ihrer Prozeßhaftigkeit eine sowohl formale als auch inhaltilche Offenheit, so daß von einem »work in progreß« gesprochen werden kann. Daraus ergab sich folgerichtig das strenge Konzept einer fotografischen Gegenüberstellung – das Danach und Danach – von fotografischen Einzelbildern zu Paaren oder Serien. Versucht wird, die Fotografien als Bilder wirksam werden zu lassen. Sie sollen nich dem politischen oder jurnalistischen Tagesgeschäft dienen, sie wollen nicht aktuell reportieren, sondern mit längerem Atem Dokument sein. Sie sind weder Werbebilder für den Aufschwung Ost, noch pittoreske Fotografien der Morbidität voller Nostalgie.

In der Gegenüberstellung der Fotografien wird eine ›Brechung‹ erzeugt, die eine ambivalente Vergleichssituation schafft. So kann durch Leerstellen zwischen den Bildern Nachdenken hervorgerufen werden. Deshalb stehen die Bildpaare bzw. -reihen nicht unmittelbar zusammen auf einer Seite, sondern sie isnd vielmehr beim Umblättern von der einen Seite auf die andere nachvollziehbar. Durch die Beziehungen zwischen den Bildern entsteht eine ARt Text für den Betrachter, an den er seine eigenen Interpretationen knüpfen kann. Die Bilder vertreten keine eindeutigen Postionen, sie stehen vielmehr für das Nicht-Einlösen von Erklärungen, weisen eine offene Erzählstruktur auf. Die Fotografien können unter verschiedenen Blickrichtungen unterschiedliche Entwicklungen veranschaulichen. Es ist ihr ästhetischer Anspruch, in dieser besonderen Form zu einer kulturellen Aufarbeitung beizutragen. In dem die Bilder zu Nach- oder Bedenklichkeit führen, sind sie jedoch weniger beständige als Fragen provozierende Fotografien. zwar befriedigen sie mitunter die Augenlust, ihre bildbezogene Qualität liegt jedoch eher hinter oder besser zwischen den einzelnen Fotografien.

Offensichtliche bildliche Klarheit entfalten die Fotografien durch die Sichtweise einer vorherrschenden Frontalität, durch strenge Ausschnitthaftigkeit und – bei aller Brillianz – durch die verhaltene Farbigkeit. Es sind keine topografisch orientierten Schilderungen. Deshalb wird auch die Untertitelung der Bilder mit Ortsangaben vermieden.

Das Konzept des fotografischen Projekts zielt eher auf stilistische Anonymität, denn auf individuellen Ausdruck. Es ist ein Experiment, durch Gegenüberstellung der Bilder die unterschiedlichen visuellen Erfahrungen zweier kooperierender Fotografen zu hinterfragen. Der traditionell ganzheitliche Anspruch des fotografischen Einzelbildes wird zugunsten eines komplexen Realitätsbegriffes aufgelöst. Durch die Vervielfachung des Zusammenhänge, des Punktuellen und des Ausschnitthaften wird eine andere Interpretation der Bilder möglich. In gewisser Weise handelt es sich um eine Art wissenschaftlichen Vorgehens. Das Programm des fotografischen Apparats unterstützt diese Vorgehensweise mit seinem seriellen Aspekt im Sinne eines akkumulierenden Archivierens. Nicht das übliche Suchen nach unwahrscheinlichen Bildern – die Verklärung – steht im Zentrum des Interesses, sondern das Forschen nach der Stuktur unserer Wirklichkeitserfassung durch systematische Offenlegung des Arbeitsprogramms. Konzeptuelle Fotografie ist stark von rationalistischem Registrieren und Sammeln bestimmt, das jedoch ohne subjektive kreativ-künstlerische Grundlagen und Einstellungen kein befreiendes ästhetisches Programm enthielte.

Fotografiert wurde mit Mittelformatkameras auf professionelles Diapositivmaterial – Klaus Dierßen tat dies im quadratischen und Ditmar Schädel im rechteckigen Format.

Der Kunstverein Hildesheim gibt dieses Buch heraus, weil er einen Stand der Untersuchung erreicht hat, der es geboten erscheinen läßt, die Arbeit einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Er möchte die Auseinandersetzung mit dem Problem Kunst und Fotografie und gezielt die künstlerische Arbeit der beiden Fotografen fördern sowie gleichwohl einen möglichen Beitrag zur Beantwortung der Frage nach unserer kulturellen Identität leisten. Hier trifft er sich mit den Interessen der weiteren beteiligten Förderer, ohne die das vorliegende Buch nicht hätte realisiert werden können. Allen Förderern sei an dieser Stelle für ihre entgegenkommende Unterstützung herzlich gedankt.

 
Hildesheim 2021